Wie Europas Börsen endlich konkurrenzfähig werden sollen

Europas Börsen versuchen vergeblich, mit der US-Konkurrenz mitzuhalten, viele Unternehmen wollen direkt in New York an die Börse. Was die Europawahl damit zu tun hat und warum die Lage in London besonders miserabel ist.

Es klang zunächst wie eine gute Nachricht. Am vergangenen Sonntag wurden Gerüchte laut, der Online-Shoppingriese Shein könnte schon bald in London an die Börse gehen, die entsprechenden Unterlagen sollen schon in wenigen Tagen eingereicht werden. Das chinesische Unternehmen strebt eine Bewertung von umgerechnet über 58 Milliarden Euro an – für den Finanzplatz London wäre der Fast-Fashion-Anbieter wohl der größte Börsengang in der Geschichte.

Ist der Shein-IPO ein großer Erfolg für den Börsenplatz London, gar für Europa? Wohl eher nicht. Eigentlich wollte der Konzern, dessen Hauptsitz mittlerweile in Singapur liegt, gar nicht in London an die Börse, sondern in den USA. Wie so viele Konzerne wollte auch Shein den gut funktionierenden US-Kapitalmarkt anzapfen. Aber daraus wurde nichts. Obwohl die Verantwortlichen schon vor über einem halben Jahr die relevanten Unterlagen bei der US-Börsenaufsicht eingereicht haben, wurde die Shein-Bewerbung dort abgelehnt – wegen angeblicher Verbindungen des Unternehmens zur chinesischen Regierung.

London kann sich nicht mit dem Shein-IPO schmücken

Tatsächlich sind nicht nur die angeblichen Regierungs-Klüngeleien, sondern auch das wenig nachhaltige Geschäftsmodell des Konzerns umstritten. London kann sich also als Standort zweiter Wahl kaum mit dem Börsengang des umstrittenen Konzerns schmücken.

Das Beispiel belegt einmal mehr das Dilemma der europäischen Handelsplätze. Denn auch wenn die Londoner Börse durch den Brexit doppelt gebeutelt ist und auch in Europa den Anschluss an Konkurrenten wie Euronext oder die Deutsche Börse zu verlieren droht: Paris, Frankfurt oder Amsterdam haben gegenüber den US-Börsen NYSE und Nasdaq auch kaum eine Chance, wenn es um den Kampf um Börsengänge und Kapital geht.

Aus Sicht der Unternehmen liegt es nahe, sich um ein Listing in den USA zu bemühen. Dank des effizienten Kapitalmarktes sind dort teilweise deutlich höhere Bewertungen möglich.

Immer mehr Unternehmen zieht es an die US-Börsen

Eine Untersuchung der Investmentfirma SCM Direct hat im vergangenen Jahr gezeigt, dass die 100 größten britischen Firmen um über 540 Milliarden Euro höher bewertet wären, wären sie statt in London in New York gelistet.

Tatsächlich trotzen viele Konzerne mittlerweile ihrem „Home-Bias“ und lassen ihre Aktien lieber in den USA an der Börse listen. Eines der jüngsten prominenten Beispiele war der IPO des Sandalen-Herstellers Birkenstock. Auch der Dax musste mit Linde einen prominenten Abgang verschmerzen, in London ist Flutter, die Mutter des Wettbürobetreibers Paddy Power, von London nach New York gewechselt.

 

Während NYSE und Nasdaq bis Anfang Mai mit elf beziehungsweise zwölf Börsengängen insgesamt über zehn Milliarden Dollar an Kapital eingesammelt haben, waren es in London gerade mal 119 Millionen Dollar, in Frankfurt 1,5 Milliarden und in Amsterdam gut zwei Milliarden.

 

Die Kapitalmarktunion könnte für Liquidität sorgen

Die Wanderung über den großen Teich macht eins mehr als deutlich: Liquidität ist das Mittel der Wahl, wenn es darum geht, die Kapitalmärkte zu beleben und mehr Börsengänge nach Europa zu locken. Das – und das ist erneut eine schlechte Nachricht für London – hat auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron verstanden und trommelt seit ein paar Wochen, vor der Europawahl, mal wieder besonders laut für eine Kapitalmarktunion.

In der Vorstellung Macrons könnten die seit langem diskutierten gemeinsamen Kapitalmärkte Europas nach der Europawahl – je nach Ergebnis – endlich Wirklichkeit werden. Dabei sieht er Frankreich als eine Art Zentrum des europäischen Markts und würde die europäische Marktaufsicht Esma, die ihren Sitz in Paris hat, gerne zur gemeinsamen Börsenaufsicht ausbauen.

Tatsächlich könnte es mit dem Projekt Kapitalmarktunion nach der Wahl vorangehen. Schon im März, bei der Konferenz „Europe 2024“ von WirtschaftsWoche, „Handelsblatt“, „Tagesspiegel“ und „Zeit“, betonten Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz, die Kapitalmarktunion sei „eine der Prioritäten“ für die neue EU-Kommission nach der Wahl.

Die europäischen Börsen wettbewerbsfähiger machen

Mit gemeinsamen Regeln und einer einheitlichen Aufsicht soll es dann gelingen, die europäischen Börsen wettbewerbsfähiger zu machen. Wie in den USA sollen sich Unternehmen dann auch hier vornehmlich über den Kapitalmarkt als über Bankkredite finanzieren. Und auch wenn die Kapitalmarktunion weiterhin heiß diskutiert wird gilt immerhin der gemeinsame Kapitalmarkt als wahrscheinlicher als die europäische Bankenunion, die zweite Säule der Kapitalmarktunion. So hat es wohl auch Scholz auf seiner Prioritätenliste notiert.

 

Tatsächlich herrscht über viele europäische Parteien hinweg Konsens darüber, dass ein einheitlicher europäischer Kapitalmarkt Europas Wettbewerbsfähigkeit gegenüber großen Volkswirtschaften wie den USA oder China enorm steigern und hohes Wachstum freisetzen würde. Bis dahin allerdings ist es ein weiter Weg. Der Fahrplan, den Eurogruppen-Chef Paschal Donohoe für das Thema ausgerufen hat, reicht bis März 2025. Auch die neue EU-Kommission, welche das Thema vor allem vorantreiben soll, wird voraussichtlich erst im Dezember ihre Arbeit aufnehmen.

Kommt es tatsächlich zum einheitlichen europäischen Finanzmarkt, wären das wohl gute Nachrichten für die EU - ein gemeinsamer Markt kann mehr leisten als 27 kleine Kapitalmärkte mit unterschiedlichen Regeln. Für London allerdings wäre die Konkurrenz umso größer. Vermutlich wäre die London Stock Exchange dann noch nicht mal mehr zweite Wahl. Schon jetzt rangiert die Börse mit ihren 2024 bisher eingesammelten 119 Millionen Dollar auf Augenhöhe mit der Börse von Kasachstan - hinter Thailand, Malaysia und Indonesien. Gut, dass Shein dann doch noch anklopfte.

 

Quelle: https://www.wiwo.de/finanzen/boerse/kapitalmarktunion-wie-europas-boersen-endlich-konkurrenzfaehig-werden-sollen/29838790.html

 

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